Als Muster ohne Wert und propagandistisches Mittel hat der deutsche Notfallmediziner Michael Wilk die sogenannte Waffenruhe im nordsyrischen Kriegsgebiet bezeichnet. „Uns wurden von Anfang an in der Waffenruhe Schwerstverletzte, Sterbende und Misshandelte in die Notaufnahme gebracht“, sagte Wilk im Dlf.
Michael Wilk im Gespräch mit Philipp May https://www.deutschlandfunk.de/notarzt-in-nordsyrien-tuerkische-invasion-hat-kaskade.694.de.html?dram:article_id=462263
Von der Türkei unterstützte syrische Milizionäre beobachten Rauchsäulen von Kämpfen in der Nähe der Stadt Ras al-Ein (AFP/Nazeer Al-khatib
Philipp May: Wir bleiben in Syrien. Die von der Türkei und Russland vereinbarte sogenannte Waffenruhe im Norden des Landes ist seit Dienstag abgelaufen. Ab morgen wollen beide Länder gemeinsam in der sogenannten Schutzzone patrouillieren. Das gab zumindest der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bekannt. Unterdessen hat die von Moskau protegierte syrische Regierung die Kurden zum gemeinsamen Kampf gegen die Türkei aufgerufen. Die Lage ist verworren und klar ist wie immer eigentlich nur das eine: Leidtragend ist die Zivilbevölkerung.
Der deutsche Arzt Michael Wilk war bis Mittwoch in der sogenannten Schutzzone unterwegs, um Opfer zu versorgen. Jetzt ist er wieder zurück in Deutschland und bei uns am Telefon. Schönen guten Morgen, Herr Wilk.
Michael Wilk: Guten Morgen, Herr May. Ich grüße Sie. – Ich war bis Sonntag da.
Seit 2014 immer wieder im Gebiet
May: Ach, bis Sonntag. Okay! – Wo waren Sie genau?
Wilk: Ich war in Tell Tamer. Abgesehen von der Anreise, da waren wir natürlich in anderen Orten auch, waren wir in Tell Tamer. Ich war Mitglied in einer kleinen Ärztedelegation, die aufgrund der türkischen Invasion extra angereist ist. Ich bin eigentlich seit 2014 immer wieder im Gebiet und kenne das ganz gut. Tell Tamer liegt an der südöstlichen Grenze des von der Türkei okkupierten oder ja jetzt invasierten Gebietes und ist zurzeit heftig umkämpft, weil die Türkei weiter versucht, ihre okkupierten Gebiete da zu expandieren.
(AFP / Aaref Watad) Türkei und Nordsyrien – „Eine Katastrophe für Jesiden und Christen“
Die türkische Offensive in Syrien hat auch Auswirkungen auf die religiösen Minderheiten der Region. Sie fürchten vor allem die Verbündeten der Türkei, syrische Milizen. Experten warnen: Durch neue Fluchtbewegungen könnte es in Nordsyrien bald keine Jesiden und Christen mehr geben.
May: Aber das heißt, sie waren vor allem während der sogenannten Waffenruhe da. Gab es die für Sie in irgendeiner Form?
Wilk: Na ja. Der Ausdruck Waffenruhe, kann ich nur sagen, ist für mich ein Muster ohne Wert, war propagandistisch eingesetzt, um zu vermitteln, man wolle irgendetwas Gutes tun für die Region. Es wird allerdings überhaupt nichts Gutes getan für die Region. Während wir da waren – wie gesagt, ich bin als Notfallmediziner da gewesen –, wurden uns von Anfang an in der Waffenruhe selbst Schwerstverletzte, Sterbende, Misshandelte in die Notaufnahme dieses kleinen Krankenhauses gebracht, was direkt an der Front liegt. Von einer Waffenruhe kann überhaupt nicht die Rede gewesen sein.
May: Wie viele Menschen waren das? Sie haben rund um die Uhr gearbeitet?
Wilk: In den ersten fünf Stunden habe ich es mal gemessen, weil danach habe ich aufgehört zu zählen. In den ersten fünf Stunden hatten wir vier Schwerverletzte, die durchsiebt waren von Schüssen oder auch von Mineneinschlägen schwer getroffen waren. Das heißt, im Grunde genommen hatten wir von Anfang an alle Hände voll zu tun, und an manchen Tagen ging das Tag und Nacht weiter. Wir mussten nachts zum Teil operieren, Schussverletzungen oder wie gesagt auch sterbende Menschen der Zivilbevölkerung. Es waren nicht nur Verteidigungskräfte der SDF betroffen, sondern auch Menschen, die einfach dort in den Häusern geblieben waren.
Aufbau eines Modells, das im Gegensatz zum Assad-Regime steht
May: SDF – Syrische Demokratische Einheiten, um das noch mal ganz kurz zu erklären. Das sind die kurdischen Truppen. – Von wem kamen denn die Angriffe, ausschließlich von der Türkei?
Wilk: Das werde ich gerne gefragt von journalistischer Seite – zurecht. Man könnte ja auch sagen, es sind nicht nur kurdische Menschen in der Region. Man versucht ja, in dieser Region seit Jahren ein selbstverwaltetes System aufzubauen, Männer und Frauen gleichberechtigt, und da leben auch assyrische, aramäische, christliche Leute und auch arabische. Die versuchen gemeinsam, dieses Gesellschaftsmodell aufzubauen, was auch im Gegensatz steht zum Assad-Regime. Diese Menschen wehren sich natürlich.
Man könnte jetzt sagen, die hätten die türken angegriffen, aber ich erzähle gerne, dass eine internationale Journalistengruppe am Samstag zum Beispiel hinter dem letzten Checkpoint auf kurdischer Seite angegriffen wurde von der türkischen Armee, vor allem von Bodentruppen. Die Türkei setzt ja islamistisch-dschihadistische Bodentruppen ein, die sie in Idlib rekrutiert, ehemalige IS-Kämpfer auch darunter, oder El-Kaida-nahe Leute, ehemalige Al-Nusra-Front-Leute. Das sind die, die vor allem am Boden eingesetzt werden. Die griffen diese internationale Journalistengruppe an, und ich nehme dieses Beispiel deshalb gerne, weil ja eine Journalistengruppe wohl kaum auf türkische bewaffnete Einheiten losgeht. Die wurden angegriffen, flohen dann in heller Aufregung, trafen im Krankenhaus ein und berichteten dann bei uns über diesen Angriff der türkischen Seite.
Das mag als Beispiel genügen, von wem da im Grunde genommen die Expandierungsaggression ausgeht.
Wie gesagt: Momentan ist Tell Tamer, wo wir vor zwei, drei Tagen waren, schwer umkämpft, weil die türkische Armee mit Luftangriffen oder auch mit schweren Waffen am Boden versucht, diese kleine Stadt einzunehmen, in der Christen, muslimische Leute und arabische Leute, kurdische Leute friedlich zusammenleben. Viele Geflohene waren dort, die sind jetzt inzwischen wieder auf der Flucht. Wir reden von 300.000 Leuten, die in dem Gebiet unterwegs sind, zwei bis 300.000 Leute sind erneut auf der Flucht, nachdem die Region eigentlich vorher relativ ruhig war.
Flucht in Richtung der ehemaligen Provinzhauptstadt Hasaka
May: Und die fliehen dann weiter ins Landesinnere, nach Syrien, in das Gebiet von Assad?
Wilk: Soweit fliehen sie nicht, weil das Assad-Regime ist bei den meisten Menschen nicht sonderlich beliebt. Man versuchte ja, sein eigenes Gesellschaftsmodell in Abgrenzung zum Assad-Regime, zum totalitären Assad-Regime aufzubauen. Die fliehen eher in Richtung der ehemaligen Provinzhauptstadt Hasaka, die 30 Minuten entfernt liegt, oder in Richtung der Großhauptstadt Kamischlo, Kamischli, wie manche sagen, oder in die östlichen Gebiete des Gebietes Rojava, wie die kurdische Region dort genannt wird. Aber wie gesagt nicht nur Kurden, sondern auch Assyrer, Aramäer und Araber versuchen das gemeinsam.
Die Lage ist wirklich desaströs, kann man sagen. Die Menschen sind jetzt geflohen. Sehr viele sind in Schulen geflohen, leben auf engstem Raum in drangvoller Enge. In Schulen ist es tragisch, weil 70 bis 80.000 Kinder können jetzt nicht zur Schule gehen dort, was eh schwierig ist in einem Land, wo die Perspektive fraglich ist, was Kinder und Jugendliche anbelangt. Der kurdische Rote Halbmond, mit dem ich seit Jahren zusammenarbeite, hat den Notstand ausgerufen für diese Region, weil natürlich jetzt Versorgungsengpässe auftreten, wenn so viele Menschen auf der Flucht sind. Das heißt Engpässe in Bezug auf medizinische Versorgung. Die wird noch geleistet, aber mit großer Mühe, und man hat die Befürchtung, dass das auch an den Rand des Kollapses gerät. Aber auch Grundnahrungsmittel sind knapp in bestimmten Gebieten. Die türkische Invasion hat eine Kaskade von menschlicher Tragödie ausgelöst.
„Afrin ist jetzt eigentlich annektiertes Gebiet“
May: Jetzt haben die Kurden sich an Assad gewandt. Ich habe es gerade gesagt. Assad hat jetzt auch die Kurden zum gemeinsamen Kampf gegen die Türken aufgerufen. Was haben die Kurden denn von Assad zu erwarten?
Wilk: Das ist in meinen Augen eine besonders tragische Angelegenheit, weil die Türkei macht natürlich im Grunde genommen um die Ecke, über Bande, könnte man sagen, einen billigen Helfer auch für das Assad-Regime, und dahinter steht natürlich nicht nur das Assad-Regime, sondern vor allem die Interessen Russlands, muss man ganz einfach auch sagen.
Das Ganze sieht aus wie eine abgekartete Angelegenheit. Schon vor einem Jahr marschierte ja die türkische Armee mit islamistischen Hilfstruppen in den westlichsten gelegenen Teil dieser Region Rojava ein, in Afrin, und man hätte eigentlich unschwer dort sehen können, was passiert.
Afrin ist jetzt eigentlich annektiertes Gebiet. Es gibt dort türkische Poststellen, es gibt türkische Unterrichtseinheiten, die Schulen machen die Lehrpläne nach türkischem Muster. Es ist eine weitere Region der Türkei geworden und man hätte vor einem Jahr schon sehen können, dass die Türkei mitnichten da irgendwelche Friedenszonen errichtet, sondern sich einfach ein Stück Land greift, um dort dann Leute anzusiedeln, mehr oder weniger freiwillig, die im eigenen Kerngebiet stören. Außerdem dient das Ganze natürlich auch zur Stabilisierung Erdogans Machtbestrebungen, der innenpolitisch ins Wanken geraten ist.
Aber was das Verhältnis zu Assad anbelangt: Es ist eigentlich jetzt so, dass die kurdische, aramäische, arabische Bevölkerung sich versucht hat, dort etwas zu distanzieren, nicht einen eigenen Staat aufzumachen, sondern eine Autonomiezone zu errichten in Kooperation, in vorsichtiger Kooperation mit dem Assad-Regime, was dort noch einzelne Inseln von Einfluss hat.
Aber das wird natürlich jetzt massiv unterminiert, weil jetzt in dem Rahmen nach dem amerikanischen Rückzug natürlich die Menschen gezwungen waren, sich an Assad zu wenden, ehe sie umgebracht werden durch Luftangriffe – sie haben ja keine eigene Luftwaffe, das ist das Problem – und jetzt natürlich Assad das benutzt, um seinen Einfluss wieder in dieses Gebiet auszudehnen und mittelfristig, ich denke, vor allem, wenn Idlib besiegt worden ist, von seiner Seite aus dort wieder das Gebiet unter seine Kontrolle zu kriegen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.