Deutscher Arzt berichtet aus Syrien heute.de Juli 2016 (nicht mehr im online-archiv vorhanden)
Kampf um Menschenleben in Kobane
Weitgehend unbeobachtet gehen nahe der nordsyrischen Stadt Kobane die Kämpfe kurdischer Einheiten gegen IS-Terroristen weiter. Die Opferzahlen sind hoch, die Hilfsmöglichkeiten der Mediziner sehr begrenzt. Beobachtungen eines deutschen Arztes.
Von Dr. med. Michael Wilk, zurzeit in Rojava (Nordsyrien)//Infobox//Michael Wilk……ist Arzt, Psychotherapeut, Autor und Umweltaktivist. Seit 2014 hat Wilk mehrere humanitäre Hilfseinsätze in Rojava im Norden Syriens geleistet. Nun will der Wiesbadener den kurdischen Roten Halbmond beim Aufbau eines permanenten Rettungssystems unterstützen. Er berichtet von seinen Erfahrungen vor Ort bei heute.de.//
Die Versorgung von Verletzten hat Vorrang vor allem anderen, auch vor dem Austausch über Rettungslogistik, dem ursprünglichen Ziel meiner Reise. Mein Kollege Sherwan und ich müssen aushelfen im Krankenhaus von Kobane, dem der Front nächstgelegenen Hospital. Es gibt kaum Ärzte und die Kämpfe um die Stadt Manbij fordern viele Opfer. Die kurdischen Verbände von YPG und der reinen Frauenverbände der YPJ, haben die Stadt umschlossen. Der IS versucht seine eingeschlossenen Kämpfer zu befreien.
In Kobane: Trümmerwüste beseitigt, Klinik eingerichtet
Die Möglichkeiten im Hospitalvon Kobane sind begrenzt. Einiges kann versorgt werden, viele Verletzte müssen jedoch nach Qamishlo weiterverlegt werden–eine vierstündige Fahrt über holprige Straßen. Neurochirurgische Eingriffe und Thoraxchirurgie (die operative Behandlung von Erkrankungen der Lunge, der Brustwand, der Speiseröhreu.a.) sind zurzeit nur in der Hauptstadt der „Autonomen Föderation Nordsyrien –Rojava“ machbar. In Kobane hat sich viel verändert. Seit meinem letzten Besuch vor einem Jahr hat sich nicht nur die Ausstattung der Klinik verbessert, viele Ruinen des zu circa 90 Prozent zerstörten Stadtzentrums wurden eingeebnet, um Raum zu schaffen für neue Straßen, Häuser und Plätze. Für einenNeuanfang, an den viele nicht glauben konnten, die das Trümmerfeld nach der viermonatigen Abwehrschlacht gegen den IS vor Augen hatten.
Kobane: Symbol des Widerstands gegen den IS
Etwa 250.000 Einwohnersind inzwischen zurückgekehrt in eine verwüstete Stadt, die 2014 den Angriffen des IS unter großer Opferbereitschaft trotzte. Bis heute ist Kobane ein Symbol des Widerstands, allerdings zum Preis unzähliger Opfer. Nur wenige Menschen lebten noch unter den Trümmern, als der IS die Belagerung aufgeben musste. Der Aufbau der Stadt erfolgt aus eigener Kraft. Die Zurückkehrenden, die in der Türkei oder in sicheren Teilen des Kurdengebiets Rojava im Norden Syriens Zuflucht gefunden hatten, erhalten zu wenig Unterstützung von außerhalb. „Hilfe kommt von Nichtregierungsorganisationen oder von im Ausland lebenden Kurden, die sich mit Material-und Geldspenden engagieren“, so Sozdar, die in der Verwaltung arbeitet.
Embargo der Türkei erschwert Leben in Nordsyrienzusätzlich
Der Überlebenswille der Menschen ist beeindruckend, die neuen Gebäude sind nur der sichtbare Teil ihrer Aufbauleistung. Alles muss neu organisiert werden: die Energie-und Trinkwasserversorgung ebenso wie das Schul-und Gesundheitssystem. Einfach alles. „Als ob die Situation nicht schon schwer genug wäre, das Embargo durch die Türkei macht alles noch komplizierter. Bei allem,was wir anschaffen, geht es immer auch darum, ob und wie auch Ersatzteile zu bekommen sind“, sagt Sozdar und lacht. Ich erlebe die Stimmung oft gelöst und fröhlich, viele seien einfach nur erleichtert, wieder zu Hause zu sein– auch wenn dieses Haus zum Teil noch in Trümmern liegt.
Von Projektilen durchschlagene Körper, abgetrennte Gliedmaßen
Dass die Menschen überhaupt noch lachen können, verwundert angesichts der Dramatik in der Notaufnahme. Allein am heutigen Tag wurden uns in einem Zeitraum von nur einigen Stunden neun Schwerverwundete gebracht. Trotz aller Bemühungen waren zwei Menschen nicht mehr zu retten. Die anderen konnten wir zumindest am Leben halten. Explodierende Granaten zerfetzen Körperteile oder treiben eine Vielzahl Fremdkörper in den Leib der Opfer. Verbrannte, von Projektilen durchschlagene Körper, abgetrennte Gliedmaßen–grauenhafte Bilder, die abzubilden nicht zumutbar ist. Außerdem: Helfer, die oft hilflos sind angesichts dieses Desasters. Es sei schon seit Wochen so, bekomme ich gesagt, alle seien am Ende. Ich bewundere die Menschen,die über so lange Zeit diese Arbeit verrichten. Die Erschöpfung ist ihnen anzusehen.
„Ich schäme mich für die Skrupellosigkeit europäischer Politiker“
Und ich schäme mich für die Skrupellosigkeit europäischer und deutscher Politiker, die vollmundig die Rede von der notwendigen Verbesserung der Lebensbedingungen vor Ort im Munde führen, aber nichts Positives unternehmen. Wer es ernst meinte mit der Aussage „Fluchtursachen vermeiden“ zu wollen, müsste seinenWorten Taten folgen lassen. Es wäre ein Leichtes, Medikamente, Baumaterial und Maschinen für den Wiederaufbau zu liefern. Die Maximen der Politik sind jedoch andere: Die Bedenken, mit der Unterstützung der PKK-nahen Kurden Nordsyriens die Türkei vor den Kopf zu stoßen und damit den Bündnis-und NATO-Partner zu verprellen, stehen weit über der Notwendigkeit, konkrete Hilfe zu gewähren. Aber für den Kampf gegen den IS sind die Menschen Rojavas gut genug.