»Das Aufrechnen kaputter Scheiben ist pervers«
Interview mit Michael Wilk, Mitglied der Bl gegen die Flughafenerweiterung im Arbeiterkampf (AK) vom 21. Oktober 1985
ARBEITERKAMPF: Als Sani warst du einer der ersten, die bei Günter Sare gewesen sind. Von dir sind häufig Aussagen dazu zitiert worden, aber immer nur auszugsweise. Kannst du deswegen die Situation nochmal insgesamt, wie du sie erlebt hast, schildern?
Michael Wilk: Wie viele andere Leute war ich auf der Kundgebung gegen die NPD. Die NPD wurde von der Polizei geschützt, wie es ihr verfassungsmäßiger Auftrag ist, hinter dem sie sich ja gerne versteckt. Dazu kann man nichts sagen, außer daß es in diesem Staat normal ist, die NPD wie jede andere nicht verbotene Organisation zu schützen … Die Stimmung war zwar sehr unruhig, bewegte sich aber im Bereich des Üblichen. Es gab Rangeleien und vereinzelt flogen Gegenstände wie Farbbeutel und ähnliches, als die Polizei NPDler in den Saal hinein geleitete. Kurz vor 21 Uhr passierte es dann. Ich selber habe es nicht genau gesehen, ich habe nur gehört, wie Wasserwerfer losfuhren. Andere Zeugen bestätigen, daß zwei Wasserwerfer losfuhren, wovon der eine spritzte. Wie Bilder und Augenzeugen belegen, spritzte der kleine Wasserwerfer auf Günter Sare. Dann fuhr der andere vor, der Günter überfuhr.
Die einzelnen Umstände müssen noch untersucht und geklärt werden. Wir fordern eine unabhängige, öffentliche Untersuchungskommission — also nicht diese Staatsgeschichte mit dem einzelnen Untersuchungsbeauftragten — mit totaler Einsicht in die Akten, vom pathologischen Befund bis zu jeder einzelnen Zeugenaussage. Unserer Meinung nach gibt es da nichts zu verstecken.
Ich selber habe es quasi erst in dem Moment mitbekommen, wo es passiert ist. Ich habe einen dumpfen Aufschlag gehört. Ich drehte mich um, hörte meinen Namen rufen, weil einige Leute wissen, daß ich Mediziner bin, ich stand ca. 50 Meter weiter weg und bin hingerannt. Um den Schwerstverletzten war schon ein loser Polizeikordon gebildet. Irgendjemand war bereits bei Günter. Ich habe zwei Anläufe gebraucht, um zu ihm durchzukommen. Beide Male zog mich nämlich die Polizei zurück, wobei ich einmal einen Schlagstock oder ein Schild, jedenfalls etwas Hartes, von der Seite in die Rippen bekam. Ich weiß nicht, von wem. Kann aber nur Polizei gewesen sein … Bei Günter war schon ein Arzt anwesend, außerdem kam noch eine Sanitäterin aus den Startbahn-Initiativen dazu. Gemeinsam haben wir versucht, Günter zu helfen. Das war dadurch sehr erschwert, daß die Polizei auf dieForderung nach Licht überhaupt nicht reagiert hat. Wir mußten den Schwerverletzten ca. 10 Meter weiter, in das Scheinwerferlicht eines parkenden PKWs, schleifen. Dort haben wir versucht, Erste Hilfe-Maßnahmen durchzuführen — nur mit Material, das nicht von der Polizei oder sonstwo-her kam, sondern das die Sanitäterin dabeihatte. Während der ersten Zeit waren wir auch Beschimpfungen ausgesetzt, wie „Ihr wollt Ärzte sein“ oder „Du Schwein willst Arzt sein“. Das fiel in irgendeiner Polizeireihe; wer es genau gewesen ist, weiß ich nicht. In dem Augenblick hat es uns auch wenig interessiert. Uns ging es um den Verletzten.
Uns war sofort klar, daß er schwerstverletzt sein mußte. Blut quoll aus Mund, Nase und Ohren. Bei den ersten Wiederbelebungsversuchen, externe Herzmassage, habe ich sofort gemerkt, daß der Brustkorb zermatscht und die Rippen gebrochen waren. Wir haben trotzdem unser Möglichstes getan, bis schließlich zwei Krankentransportwagen eintrafen, die allerdings für so einen Fall nicht ausgerüstet sind. Wir mußten also nochmals warten, bis endlich der Notarztwagen eintraf, den wir sofort angefordert hatten. Das hat für unsere Begriffe ziemlich lange gedauert.
Wie reagierte die Polizei, als ihr das verlangt habt?
Die haben gar nicht viel gesagt. Wir wissen nicht, ob sie den Notarztwagen gleich gerufen haben oder nicht. Das wird alles zu klären sein, wenn die Funkprotokolle vorliegen. Die Wiederbelebungsversuche gingen im Notarztwagen weiter, aber erfolglos. Das ist kein Wunder bei der Schwere der Verletzungen, wie sich später herausstellte: zerdrückter Brustkorb wahrscheinlich durch Überfahren vom Zwillingsreifen des -zig Tonnen schweren Wasserwerfers und Schädelbasisbruch.
Konnte man, wenigstens in den ersten Augenblicken, sowas wie Betroffenheit bei den herumstehenden Polizisten bemerken?
Die Reaktionen in der unmittelbaren Situation wie auch in den Stunden und Tagen danach waren bei der Masse der Polizisten, soweit ich das feststellen konnte, relativ kalt, ja kaltschnäuzig bis hin zum typischen Verdrängungsphänomen, daß sogar darüber gelacht wurde. Bei der Demonstration, die noch am gleichen Abend in die Innenstadt ging, fielen Sprüche wie „Ihr seid die Nächsten“. Die Haltung der Polizei ließ überhaupt nicht erkennen, daß sie irgendwie moralische oder emotionale Konsequenzen daraus gezogen hätte. Es war vielmehr ein eiskaltes Auftreten nach dem Motto: «Was geht uns das an? Es war eben Günters Risiko.» Es gab aber auch Ausnahmen. Ein, zwei Polizisten haben bei unseren Bemühungen um Günter geholfen. Sie hielten die Infusion. Mittlerweile wissen wir auch, daß ein Polizist bei der Mahnwache für Günter Sare mitgemacht hat. Das sind aber einzelne Ausnahmen. Insgesamt hat die Polizei kaltschnäuzig reagiert, was leider viel über ihre psychische oder innere moralische Einstellung gegenüber solchen Ereignissen aussagt.
In den ersten Stellungnahmen der Polizei war von einem Stein die Rede, der in dem Blut auf der Straße gelegen hätte. Habt ihr das gesehen?
Derartiges haben wir nicht bemerkt. Natürlich achtet man auch nicht auf solche Dinge, wenn man einen Schwerverletzten versorgt. Von Leuten, die danach an der Unfallstelle waren, wurde erzählt, es läge ein — allerdings blütenweißer! — Kalksandstein in einer Blutlache, und es sei daher sehr unwahrscheinlich, daß er von Anfang an dort gelegen habe. Das alles muß noch genau untersucht werden.
Mit welchem Ziel seid Ihr von der Bürgerinitiative gegen die Flughafenerweiterung zum Protest gegen die NPD-Veranstaltung gekommen?
Die BI ist eine Initiative, die sich gegen den Ausbau dieses Molochs wendet, der unseren Befürchtungen nach noch weiter gehen wird. Im Lauf der Jahre ist die BI keine reine Ein-Punkt-Bewe-gung geblieben, ihr Anliegen ist schon breiter. Wir haben erkannt, daß Aktivitäten gegen Umweltzerstörungen nicht an der eigenen Haustür aufhören können, sondern daß antifaschistischer Widerstand oder die Aufrüstungsproblematik ein eigenes Gewicht haben und auch nicht von unseren Bemühungen gegen dieses Mammutprojekt zu trennen sind. Infolgedessen waren viele Leute als Einzelpersonen auf dieser Demonstration. Von den Organisatoren her war es das Ziel, ein Gegenbündnis gegen die NPD herzustellen. Die NPD-Veranstaltung fand im Gal-lus statt, also in einem Stadtteil, wo sehr viele Ausländer leben. Die Forderungen der NPD in Bezug auf Ausländer sind bekannt. Es ist zum Schutz der Ausländer einfach nötig, die Leute, die solche ausländerfeindlichen Dinge verzapfen, zu isolieren.
Allerdings stellte ich zu meinem Bedauern fest, daß eine Menge Redner seitens des DGB nach ihren Reden nichts Eiligeres zu tun hatten, als die NPD NPD sein zu lassen und zu verschwinden. Viele Menschen, denen es um mehr ging, als Reden zu halten, blieben aber stehen, um den Eingang des Saals zu blockieren bzw. den Besuchern der NPD-Veranstaltung den Zugang zu erschweren. Ich finde, es ist eine völlig normale Angelegenheit, daß man sich im Rahmen seiner sonstigen Tätigkeiten um derartige faschistoide Veranstaltungen kümmert, und daß man dagegen vorgeht. Ich betrachte jetzt aber nicht die NPD und die neofaschistischen Organisationen als das Hauptproblem, womit wir uns auseinandersetzen müssen. Es ist ein Teil der gesamten Problematik innerhalb der Verschärfungen dieses Systems. Man sollte aber gegen die einzelnen Geschichten etwas tun. Ich selber würde das nicht schwerpunktmäßig betreiben, aber ich bin — wie viele andere auch — bereit, soetwas zu unterstützen.
Ich nehme an, auch wenn es etwas blöde klingen mag, daß das Geschehen von diesem Samstag abend auch persönliche Spuren hinterlassen hat. Man reagiert ja nicht nur rational-politisch.
Natürlich macht es einen fertig. Es hätte mich auch total geschafft, wenn es kein Demonstrant gewesen wäre. Es macht dich auch fertig, wenn dir als medizinisch Helfendem jemand quasi unter den Fingern wegstirbt. Ich habe übrigens anfangs gedacht, die Polizei hätte einen Passanten überfahren. Günter sah nämlich nicht so aus, wie viele Demonstranten auszusehen pflegen. Oder anders gesagt: Er entsprach nicht dem typischen Demonstrantenbild, das man mittlerweile schlimmerweise auch selber schon hat. Egal also, wer da nun erwischt worden war — wir waren alle runter mit den Nerven. Ich halte es nicht für eine heuchlerische Betroffenheit. Jeder, der das mitbekommen hat, war schlichtweg schockiert — weil es eine Sache ist, die vielleicht schon tausend Mal hätte passieren können. Aber wenn es wirklich passiert, dann kann man nicht rational danebenstehen.
Praktisch in der gesamten Presse wurde von unpolitischer Randale, von vorgeschobener Trauer, Mob, der nur einen Anlaß für Putz sucht, usw.usf. geschrieben. Selbst der „Pflasterstrand“ spricht von unpolitischen kids, für die man linke Sozialarbeiter braucht.
Stichwort Krawalle: Was am Tag danach an Glasbruch in der Stadt passierte — ich will es weder verteidigen noch angreifen — erklärt sich schlichtweg aus der Wut der Leute. Auch ein Stück Hilflosigkeit ist dabei. Was sollen Leute tun, die mitbekommen, wie einer von ihnen im wahrsten Sinne des Wortes plattgewalzt wird, die keine Medien in der Hand haben, um auch nur die einfachsten Informationen in die Öffentlichkeit zu bringen, die als Einzelpersonen oder kleine Gruppen diesem wahnsinnigen Apparat gegenüberstehen? Gewiß — es gibt auch Leute, die meinen, ohne zerbrochene Scheiben kann man überhaupt keine Öffentlichkeit herstellen. Wir — damit meine ich nichts Festgefügtes, keine starre Organisation, sondern ein sehr loses Konglomerat, eine Mischung verschiedenster Betroffener, Gruppen oder Einzelpersonen — haben uns direkt danach getroffen. Daraus hat sich eine Art Kreis entwickelt, der versucht hat, dem Protest einen gewissen Ausdruck zu verleihen. Ich kann nicht für alle sprechen. Wenn ich mich selber politisch klassifizieren soll, bin ich ein Libertärer, der seit Jahren versucht, über Bürgerinitiativen im Sinne einer Bewußtseinsveränderung zu arbeiten. Ich kann aber so etwas wie eine Tendenz wiedergeben. Anfangs konnte man in der Presse eine gewisse Bemühung um Ausgewogenheit feststellen, wenigstens bei einzelnen Reportern. Es wurde über Günters Tod berichtet, viele Informationen konnten in den Medien untergebracht werden. Je mehr das Ereignis zeitlich zurücklag, desto mehr gewann das Hervorheben von Krawallen an Gewicht. Das ist bei manchen Zeitungen wohl Methode. Bei denjenigen, die es nicht von selbst betreiben, wurde es wohl ganz stark von den politisch Verantwortlichen forciert und geht in Richtung einer Stimmungsmache. Das ist ganz klar und an sich nichts Neues. Das ist bei jedem Ereignis so gewesen, angefangen mit Brokdorf und den anderen Großdemonstrationen. Letztlich wird von den Medien versucht, die kaputte Scheibe gegen das eigentliche Anliegen zu gewichten. Hier, wo es einen Toten gibt, der von einem Wasserwerfer überrollt worden ist, ist es für mich pervers, es wieder mal so aufzurechnen. Verwunderlich ist es aber nicht, es ist Methode, es ist normal. Es soll dazu dienen, beim breiten Publikum, das diese Zeitungen liest, ein Nachdenken zu verhindern. Beziehungsweise: Es wird kaschiert. Das eigentliche Ereignis wird kaschiert und andere, unwesentliche Dinge werden in den Vordergrund gerückt.
In einem ,,stern“-Interview geben zwei — nach Darstellung der Interviewer — Hamburger Militante markige Sprüche von sich, sozusagen als Kronzeugen für Streetfighter-Mentalität. Da heißt es z.B., sie würden keinen NorweTirbe-griff kennen, während es doch gerade umgekehrt ist: Die Polizei kennt tatsächlich keinen Notwehrbegriff. Der „stern“ will wohl nahelegen, daß solche Auffassungen repräsentativ für die Aktionen nach dem Tod von Günter Sare gewesen sind.
Ich habe das Interview nur schnell gelesen, kann also keine analytische Antwort geben. Ich kann nur sagen, der Protest hier vor Ort war sehrbreit. Mit unterschiedlichsten Menschen. Auch Leute, die noch in der SPD oder in anderen Parteien und Organisationen sind, sowie die diversen Fraktionen der Grünen, wenn auch nur als Einzelpersonen, waren vertreten. Leute aus Bis, Unorganisierte, Leute, die sich als Autonome bezeichnen, auch Libertäre unterschiedlichster Couleur. Demgemäß ist dieses ,,stern“-Interview ganz bestimmt nicht beispielhaft für die Bewegung, weil es die Bewegung anläßlich des Todes von Günter Sare gar nicht gibt. Die Bewegung ist spontan — aus der Betroffenheit verschiedenster Leute entstanden. Es ist ja gottsei-dank noch so, daß ganz unterschiedliche Menschen vom Tod Günter Sares betroffen waren mit ganz unterschiedlichen Gewichtungen, die einen mehr emotional, die anderen mehr politisch. Zum Inhalt des Interviews: Es gibt verschiedenste Leute mit verschiedensten Ansichten. Allerdings muß ich sagen, daß mich persönlich eine gewisse Kaltschnäuzigkeit und Arroganz geärgert hat, wie dort über Menschenleben, auch wenn es um Menschenleben der Polizei und des Staatsapparates geht, gesprochen wird. Ich kann diesem in weiten Teilen unmenschlichen System nur etwas entgegensetzen, das auf humanen, menschlichen Ansichten basiert. Das mag moralisch klingen. Dazu stehe ich aber auch. Ich kann dieses System nicht mit der gleichen kalten Technik bekämpfen. Das kam mir in dem Interview so vor. Das ist nicht mein Stil und bestimmt auch nicht derjenige vieler anderer Leute.
Ich fand die Teilnehmerzahlen an den Demonstrationen aber nicht gerade sensationell.
Ja, es hätten natürlich mehr sein können. Ich kann aber über die Art und Weise, wie Leute ihre Betroffenheit äußern, nicht urteilen. Ich denke, es gibt unterschiedliche Möglichkeiten.Entscheidend ist, daß sich möglichst viele Menschen dazu verhalten. Das muß nicht unbedingt im Rahmen einer Demonstration geschehen. Ich denke, es gibt eine ganze Menge Leute, die entsetzt sind und vielleicht auch Konsequenzen, welcher Art auch immer, ziehen, die aber dennoch nicht zu den Demos gegangen sind. Vielleicht haben sich auch viele durch das, was die Polizei einem bot, abschrecken lassen, durch die totale Polizeipräsenz in der Stadt und die Verhängung eines inoffiziellen Ausnahmezustandes. Das ist gut verständlich. Jede(r) hat Angst gehabt, auf diese Demos zu gehen. Man kann es eben nicht so leicht verdauen, daß kurz zuvor einer umgefahren wurde und dann die gleichen Wasserwerfer, die gleichen Polizeibeamten mit tatsächlich gnadenloser Härte gegen die Nachfolge-Demonstrationen vorgehen.
Siehst du keine Verantwortung der Linken? Immerhin wird in manchen Kreisen Frankfurt als Hochburg der Linken stilisiert.
Das ist keine Erscheinung, die erst am Tode Günter Sares deutlich geworden wäre. Es ist ein allgemeiner Prozeß. Klar kann man sagen, daß man in einem solchen Fall, der auch tief in emotionale Bereiche geht, mehr hätte erwarten können. Aber weshalb sich allgemein zu wenig Leute engagieren — dazu müßte man ein gesondertes Interview machen.
Was hältst du überhaupt von der Frankfurter Linken?
Was für eine Frankfurter Linke? Interessant ist das Verhältnis zwischen denen, die sich Altspontis nennen, und denen, die die Proteste tragen. Auf einer Veranstaltung sind die Altspontis bei vielen gegen die Wand gelaufen, die sich darüber empörten, daß Leute, die in ihren Augen quasi schon zum Establishment gehören, sich zu Sprechern von Sachen machen, die sie einfach nicht verkörpern. Daß sie sich zu Betroffenen machen. Das wurde kritisiert, auch wenn es im allgemeinen Chaos nicht rüberkam. Es geht darum, daß Leute, die früher stark am außerparlamentarischen Widerstand teilhatten heute funktionsträger des offizellen Systems geworden sind. Jüngstes Beispiel Joschka Fischer, zuständig wohl bald für Umwelt und Energie. Vonwegen parlamentarisches Bein der Bewegungen. Genau das wurde ihnen von denjenigen vorgehalten, die innerhalb dieser Gesellschaft wenig zu erwarten haben. Die neuen Parlamentarier tun sich recht schwer, mit diesem Protest umzugehen. Daraus erklärt sich auch die Empfehlung des „Pflasterstrand“ an die Grünen, Sozialarbeit innerhalb der außerparlamentarischen Bewegungen zu betreiben. Das ist ein Widerspruch, der sich m.M. noch verschärfen wird. Man kann feststellen, daß es mit dem parlamentarischen Bein des außerparlamentarischen Widerstands nicht weit her ist, sondern daß sich die Sache fast umdreht. Es hat fast zu einer Interessensspaltung innerhalb der Bürgerinitiativen und in weiten Kreisen geführt. Die Politik der SPD — teile und herrsche — ist relativ erfolgreich. Man assimiliere einen Teil, man integriere einen Teil und man schwäche und breche den außerparlamentarischen Widerstand. Diese Rechnung scheint zumindest bei den hessischen Grünen sehr gut aufzugehen. Genau das ist die Kritik an den Altspontis.
Was würdest du selber von den Grünen erwarten?
Ich bin Anhänger der Eigeninitiative und Eigenverantwortlichkeit. Ich bin der Meinung, daß Freiheit sehr viel mit Verwirklichung der eigenen Interessen zu tun hat, und daß diese Interessen nicht vorher durch einen Filter der Delegierung laufen können. Wenn ich Interessen an jemanden delegiere, habe ich keine Kontrolle mehr darüber, was er mit meinem Anliegen anfängt. Oft werden diese Interessen zu Dingen verarbeitet, die letztlich gegen das ursprüngliche Anliegen der Betreffenden stehen. Das ist keine Politik, wiemir vorschwebt. Ich befürworte sie Eigenorganisation die Selbstverantwortung. Das ist auch das, was wir m.M. dem, was im Lande passiert, entgegensetzen müssen: selbstorganisiertes Handeln. Das heißt, daß wir den sich verschärfenden Bedingungen, ob im ökonomischen, politischen oder ökologischen Bereich, verstärkt selbstbestimmte Strukturen im Sinne von Arbeitslosen-Inis, Stadtteilzentren, oder auch der guten alten Bürgerinitiativen entgegensetzen müssen.
Trotzdem muß es doch konkrete Kritiken einerseits und konkrete Anforderungen andererseits an die Grünen geben. Zum Beispiel Ihre Zustimmung zum Polizeihaushalt, mit dem wahrscheinlich auch drei neue Wasserwerfer finanziert worden sind — darauf gehen die Koalitionspolitiker mit keiner Silbe ein. Genau das wird penetrant umschifft.
Das ist schon ein wichtiger Punkt, aber auch nur ein Teilaspekt. Wer an der Macht partizipiert, der steht auch in der Verantwortlichkeit dessen, was diese Macht verübt. Dazu gehört nicht nur die Finanzierung neuer Gefängnisse oder Wasserwerfer sondern in letzter Konsequenz auch das, was durch diese Wasserwerfer angerichtet wird. Die Unterstützung der Grünen für diesen Untersuchungsbeauftragten von Winterstein (hess. Innenminister, Anm. AK) ist eigentlich eine Farce. Weder Winterstein noch die Grünen noch dieser Untersuchungsbeamte sind vom Exekutivapparat losgelöst. Es ist insgesamt ein Machtkomplex — entweder man partizipiert daran oder man versucht, diesen Machtkomplex zu beobachten, im Zweifelsfall auch zur Rechenschaft zu ziehen. Das fällt umso leichter, je weiter man von diesem Machtapparat entfernt ist. Und die Grünen sind darin sehr stark integriert. Ich als Einzelperson habe keine Forderung an die Grünen. Auch wenn die BI Forderungen stellt, wie z.B. Nachtflugverbot, richtet sie sich an den gesamten Apparat, nicht speziell an die eine oder andere Parte. Für sehr viele sind die Zeiten vorbei, wo in den Grünen unsere Vertreter in den Parlamenten gesehen wurden. Es gibt wohl noch eine ganze Menge Leute, die das hoffen und die sie wählen. Aber bei weiten Teilen der außerparlamentarischen Bewegungen sind die Illusionen hierzu stark zurückgegangen.
Auch SDAJ bzw. DKP wurden auf einzelnen Treffen stark kritisiert. Sie hätten versucht, das Geschehen parteipolitisch zu vereinnahmen. Vereinzelt wurde gesagt, man wolle mit denen überhaupt nichts mehr zu tun haben.
Ich war bei der Beerdigung und habe die Rede eines DKPlers gehört (auf Wunsch der Mutter sprach neben einem Pfarrer, der mit Günter befreundet war, auch Emil Carlebach; Anm. AK). Ich empfand es als taktlos. Ich selber habe nie für jemanden gesprochen, sondern als jemand, der das Geschehen zwangsläufig miterlebt hat.
Ich habe mich immer davor gehütet, Günter als jemanden, der quasi im Kampf gefallen wäre, darzustellen. Ich empfinde es einfach als unangebracht in diesem Zusammenhang. Denn Günter ist nicht für etwas gestorben, sondern er ist durch etwas gestorben, nämlich durch einen Wasserwerfer-Einsatz der Polizei. So schrecklich das auch ist, muß man feststellen, daß es auch an der Startbahn oder bei der Südafrika-Demonstration in Frankfurt hätte passieren können. Im Grunde genommen bei jeder Gelegenheit, wo sich Demonstranten oder Kritiker dieses Systems und Polizei gegenüberstehen. Das ist Strategie der Polizei: Die Polizei nimmt beim derzeitigen Stand der Dinge bei ihren Einsätzen anscheinend auch Tote in Kauf.
Was muß jetzt gemacht werden? Ermittlungsarbeit? Aktionen? Veranstaltungen?
Zunächst mal: Was an Arbeit direkt nach dem Ereignis glaufen ist, kann in der Intensität nicht weiterbetrieben werden. Die Leute müssen zum sogenannten «normalen» Alltagsleben zurück, zur Arbeit, Schule, Uni … Was geleistet werden muß, ist der Versuch einer Analyse, die sich mit den Hintergründen dieses Ereignisses beschäftigt. Es soll also nicht vordergründig bei der Forderung nach einem Verbot der NPD stehen geblieben werden oder bei der Forderung nach einer vordergründigen Bestrafung der direkt Verantwortlichen. Die Strukturen selber, also die Strukturen von Polizeieinsätzen müssen näher untersucht werden. Das Ganze muß in der Öffentlichkeit so hinterfragt werden, daß über die prinzipielle Möglichkeit gesprochen wird, daß man bei Demonstrationen umkommen kann. Inwiefern das von uns selber geleistet werden kann, weiß ich nicht. Da sind vor allem Gruppen gefragt, die in anderen sozialen Zusammenhängen arbeiten, z.B. die Bunte Hilfe oder auch die Rechtsanwälte, die Zeugenaussagen sammeln. Es wird versucht werden, eine Dokumentation herzustellen und in Frankfurt soll eine Veranstaltung stattfinden.
Es gibt ja durchaus Kontroversen, wie es weitergehen soll. Die Darmstädter BI gegen die Flughafenerweiterung hat ein vierseitiges Flugblatt veröffentlicht, wo vor allem die Notwendigkeit eines breiten Bündnisses gegen den Abbau der demokratischen Rechte, für Verteidigung der Versammlungsfreiheit usw. betont wird. Sie fordert auch eine Bestrafung der direkt Verantwortlichen, d.h. der Wasserwerfer-Mannschaft, und den Rücktritt von Winterstein.
Natürlich — was hier an sog. Grundrechten existiert, muß man weiterhin fordern, in Anspruch nehmen, und man darf auf keinen Fall Rückschritte akzeptieren. Das ist ja letztlich das, was der Staat aufgrund vorausgegangener Auseinandersetzungen einem zur Verfügung stellen muß. Und das kann immer nur wieder überprüft werden, indem man es auch in Anspruch nimmt. Insofern muß man sich gegen die Bestrebungen zum Abbau demokratischer Rechte wenden, ob es jetzt das Demorecht oder das Streikrecht betrifft. Man soll aber nicht dabei stehen bleiben, sonst wäre es m.M. eine vordergründige Auseinandersetzung.
Wie sieht es in diesem Zusammenhang mit Bündnisbereitschaft oder Bündnisabsichten aus? Ganz lapidar: Wer soll mit wem wofür kämpfen?
Es ist die Frage, inwiefern sich verschiedene Gruppen und Initiativen in der Lage sehen, sich anzunähern. Anläßlich des Todes von Günter, unter dem ungeheuren Druck von außen, gab es auch einige positive Aspekte. Es gab eine Zusammenarbeit von verschiedensten Gruppen, die sich sonst kaum noch begegnet sind. Hier möchte ich übrigens betonen, daß es eine absolute Schweinerei ist, die BI gegen die Flughafenerweiterung, nach dem Motto „Startbahn-Chaoten“, als Hauptträger des Protestes zu bezeichnen. Sie war nur eine von vielen anderen Gruppen und Initiativen, die das, was sie im im ZUge der Jahre an der Startbahn gelernt hat, zur Verfügung gestellt hat. Ich hoffe, daß diese Zusammenarbeit und vor allem die Diskussion zwischen den verschiedenen Gruppen weitergeht.
Ich bin ein ganz starker Gegner von Abgrenzungen im Sinne einer nicht geführten Auseinandersetzung. Sektierertum ist auf Dauer tödlich. Was wir anhand der BI gelernt haben, ist, daß eine gesellschaftliche Veränderung, eine Kritik an diesem Staat, ein aktives Vorgehen zum Beispiel gegen den ökologischen Wahnsinn dann am wirksamsten sind, wenn auf allen Ebenen, so breit wie möglich, in allen sozialen Schichten Berührungspunkte gesucht werden. Das ist allerdings nicht mit der Aufgabe von Inhalten zu verwechseln. Ich bin für Auseinandersetzungen, Diskussionen, aber es geht nicht um Verbreiterung im Sinne populistischer Bündnispolitik. Das hat keinen Sinn. Man kann Handkäs nur flach schlagen. Der wird breiter, gewinnt aber nicht an Substanz.
(Die Fragen stellte E.« KB/Gruppe Frankfurt)